vom stoppenberger traum der gründer

Karl Heinz Brokerhoff, Gründungsdirektor Die Stoppenberg Story ist zwar für die direkt Betroffenen schon all zu oft erzählt worden; dennoch tu' ich' s nochmal, weil die Redakteure der Jubiläumsschrift das für richtig halten: Sie verweisen auf viele neue Lehrer, vor allem aber auf neue Schülerinnen und Schüler. Da ich ( bei den vielen vorliegenden Dokumenten zur Schulgeschichte) lediglich ganz persönliche Anmerkungen zur Anfangs Phase der Schule machen werde, verlangt dieses Bekenntnis notwendig nach Ergänzungen und Korrekturen anderer Zeitzeugen, Und davon gibt es ja gottlob am Stoppenberg noch eine ganze Reihe.
Im Herbst 1965 stellte ich mich beim damals für Schulfragen der Stadt Essen zuständigen Dezernenten Dr. Heitmann als künftiger Leiter eines geplanten bischöflichen Gymnasiums vor und verriet ihm dabei den ins Auge gefaßten Standort Stoppenberg. Da führte mich Dr. Heilmann vor eine große Schautafel einen wandhohen Stadtplan, in den die Gymnasien der Stadt Essen und deren Schülereinzugsbereiche eingezeichnet waren. Auf einen Blick erkannte man, daß der Essener Norden, vom Bildungsangebot her gesehen, Notstandsgebiet war: Es gab da überhaupt kein Gymnasium, und nur wenige Schüler waren als pädagogische Pendler zwischen den nördlichen Stadtteilen und der City vermerkt. Das Schaubild im Essener Schuldezernat bestätigte augenfällig den Befund, der für das Bistum Essen zum pädagogischen Hauptmotiv für die geplante Schulgründung wurde.
Diesen praktischen Plänen war eine breite wissenschaftliche Diskussion vorausgegangen, in der man viel von der deutschen Bildungskatastrophe redete. Im internationalen Vergleich, so wurde statistisch nachgewiesen, schneide die Bundesrepublik äußerst schlecht ab. Bei uns gäbe es unerschlossene Bildungsreserven, und die wichtigste seien die Kinder der unterprivilegierten Bevölkerungsschichten: das Arbeiterkind!
Hinter dem Schulplan des damals jüngsten deutschen Bistums steckte eine versierte und engagierte Persönlichkeit: der schulerfahrene Dompropst Professor Aloys Reiermann, der von Bischof Dr. Hengsbach zu seinem Schuldezementen berufen worden war. Prof. Reiermann hatte meine Thesen für eine Reform des "verkopften" Gymnasiums gelesen, Thesen, für die ich u.a. Erfahrungen an einer Berliner Internatsschule ausgewertet hatte insbesondere die Einbeziehung handwerklicher Ausbildung in den gymnasialen Lehrplan der wissenschaftlichen Grundbildung. Ich bezog mich, wenn es um eine verkürzte Argumentation ging, auf Pestalozzis ganzheitliches Bildungsprogramm Kopf Herz Hand!
Prof. Reiermann war der Meinung, daß sich der sozialpolitische Impuls des Bistums und mein reformpädagogischer Ansatz aufs beste ergänzten. Er ließ für unser Zusammentreffen das Wort Zufall nicht gelten. Für Prof. Reiermann und mich war von vornherein klar, daß sich unser Konzept nur innerhalb einer ganztäglichen Schulform realisieren lassen würde. Unsere damaligen pädagogischen Motive für die Gründung eines Tagesheimgymnasiums in freier Trägerschaft lassen sich so zusammenfassen:
1. Der Ruf nach mehr Abiturienten, (Pichts Buch: "Die deutsche Bildungskatastrophe" war zwei Jahre vorher erschienen.) 2. Der Ruf nach gleichen Bildungschancen für alle ( d.h. insbesondere nach Hilfen für Kinder aus Familien benachteiligter Schichten) 3. Der Ruf nach der Fünf Tage Woche ( d.h. nach Anpassung der Schule an die Arbeitswelt !) 4. Das Ziel eines ganzheitlichen Bildungsangebots (z.B. durch Einbeziehung handwerklicher Arbeit in das Unterrichtsprogramm und Betonung vernachlässigter kreativer Bereiche) 5. Die Neubesinnung auf den Erziehungsauftrag der Schule bei uns nach den Grundsätzen der katholischen Glaubens und Sittenlehre.
Die wichtigste Ermutigung zu unserem in Nordrhein Westfalen noch beispiellosen Unterfangen ging, wie im Falle Professor Reiermann schon angedeutet, von der entschiedenen Absicht und der einmütigen Unterstützung der Bistumsleitung aus. In der Praxis kamen dann allerdings einige ausgezeichnete Fachleute hinzu: Der spätere Oberverwaltungsrat Franz Biskupek identifizierte sich voll mit der Konzeption der geplanten Schule, und so kam es zwischen Schule und Schulverwaltung zu einer intensiven und schließlich freundschaftlichen Zusammenarbeit, wie sie im Riesenapparat des öffentlichen Schulwesens niemals denkbar wäre. Zum zweiten engagierten Helfer wurde der Diözesan-Baumeister Eberhard Michael Kleffner, dem die interessante und ehrenvolle Aufgabe zufiel, nach den Plänen der Pädagogen ein Schulhaus für Nordrhein Westfalens erstes Tagesheimgymnasium zu entwerfen. Ich selbst erhielt eine erste Mitarbeiterin: Frau Elisabeth Ettl, die ohne Abstrich die Mitarbeit beim Aufbau des Stoppenberger Gymnasiums zu ihrer Lebensaufgabe machte und heute, nach 30 Jahren, als das Gedächtnis der Gründer Generation gilt. Aber noch gab es weder Schüler noch Lehrer, weder eine Unterrichtsgenehmigung des Kultusministeriums noch ein Schulgebäude dafür Arbeit und erste Sorgen in Hülle und Fülle: Das kleine Gründungsteam besichtigte Internate und Ganztagsschulen anderer Bundesländer, verhandelte mit staatlichen Schulaufsichtsbeamten und Ausbildungsleitern der benachbarten Zechen. Je mehr wir uns in das Thema vertieften, desto mehr Probleme deckten wir auf. Zum Hauptproblem wurde die Lehrerfrage: Es mußten ja Kollegen gefunden werden, die sich zu den Bildungsprinzipien der katholischen Kirche bekannten und darüber hinaus bereit waren, sich auf das Experiment einer noch unbekannten Schulform einzulassen. Schon bei dieser Kernfrage erhielt die Euphorie unseres Beginns einen mächtigen Dämpfer: Die Zeit der Schulgründung fiel unglücklicherweise in eine Epoche extremen Lehrermangels. Wir waren also gezwungen, immer wieder auf nicht voll ausgebildete Lehrkräfte und Teitzeitbeschäftigte zurückzugreifen, und manchmal drohte das mit viel Elan und angegangene Unternehmen am Lehrermangel zu scheitern.
Die organisatorischen und technischen Probleme dagegen ließen sich mit Glück und vielen Hilfen lösen: Im Sinne des Sprichworts Wer sofort hilft, hilft doppelt ! wurde in Katernberg auf der grünen Wiese ( in der Nähe des Pestalozzidorfes) in Holz Baracken mit dem Schulbetrieb begonnen. (Um die künftigen Eltern und Schüler nicht zu verunsichern, sprachen wir offiziell immer von "Pavillons".)
Das erste kleine Lehrerkollegium (der Schulleiter eingeschlossen) mußte sich unterm Dach eines Siedlungshäuschens zusammenraufen. Herr Gersch übernahm schon bald meine Stellvertretung, insbesondere also die Aufgaben der internen Schulverwaltung. Er wußte, daß er diese Aufgaben viel besser lösen konnte als sein Chef, und sein Chef wußte das auch. Das Lehrerkollegium mußte ein ungeheures Pensum an theoretischer Grundlegung bewältigen meist außerhalb der Unterrichtszeit. Wir diskutierten ohne Ende: Über das Schüler-Aufnahmeverfahren und die Freizeitangebote, über die Anstellung eines Schulpsychologen und die Einrichtung eines Sozialpädagogischen Dienstes, über kindgemäßes Essen und die Einbeziehung ehrenamtlicher Mitarbeiter ... Für mich, den aus der Landeshauptstadt Düsseldorf Kommenden, wurden die Schülereltern des Ruhrgebiets zum Erlebnis: Ich lernte einen handfesten Menschenschlag kennen, der, einmal überzeugt, zum einfallsreichen und verläßlichen Partner wurde. Ich brauchte in einer Schulpflegschaftsversammlung nur eine Bitte auszusprechen, und prompt klingelte bei mir zwei oder drei Tage später das Telefon: "Kann Ihnen übrigens so eine Werk Lok besorgen..." Entscheidend aber wurde die regelmäßige ehrenamtliche Mitarbeit der Mittags Muttis, die im Freizeitbereich halfen. Übrigens konnten wir schon zwei Jahre nach der Eröffnung der Schule, so verrückt das klingen mag, unser erstes Abitur abnehmen: Ein Aufbauzug für Realschüler, den wir von vornherein eingeplant hatten, und ministeriell verordnete Kurzschuljahre machten es möglich. Im selben Jahr 1968 legten wir den Grundstein für den Neubau der Schule auf der Kapitelwiese in Stoppenberg, und zwar auf einem Riesengrundstück von 90.000 Quadratmetern. Ich hatte solch ein großes Grundstück, an englische Internate denkend, gewünscht. Der damalige Finanzminister des Bistums soll erschöpft geseufzt haben: " Ein teurer Mann". Einige Jahre später aber stellte sich dieser Kauf als ein großes Geschäft heraus als dies Grundstück nämlich beim Ausbau der Schule zum Schulzentrum problemlos auch noch Platz für die Bauten und Freizeitbereiche einer Tagesheim Realschule und einer Tagesheim Hauptschule bot. Für den Neubau des Gymnasiums war ein Plan entwickelt worden, den wir intern unsere kleine Stadt nannten ein Plan, der den Gästen der Eröffnungsfeier wirklich utopisch erschien. Vieles aber konnte realisiert werden. Vier Jahre später, im Mai 1972 wurde der Neubau des ersten nordrhein westfälischen Tagesheim Gymnasiums eingeweiht.
Erst im Neubau konnten wir daran denken, unsere pädagogischen Pläne in allen Feldern zu erproben. Schulpsychologischer und Sozialpädagogischer Dienst wurden eingerichtet, Sportstätten und Freizeiträume etabliert, zu Unterrichtsversuchen mit den neuen Möglichkeiten von Gruppenräumen und Sprachlabor angeleitet: Musik Übungszellen und Große Halle füllten sich mit Leben. Aber gerade von diesen zusätzlichen Möglichkeiten gingen später vielfach Enttäuschungen aus. Es zeigte sich schon nach wenigen Jahren, daß trotz einer hochmotivierten Lehrergruppe das vorhandene Raumangebot nicht voll ausgeschöpft werden konnte. So scheiterte zum Beispiel die gewünschte Zusammenarbeit zwischen theoretischem Biologieunterricht und praktischer Gartenarbeit bzw. Kleintieraufzucht (sprich Hühnerstall ) Oder: Der große Zeitaufwand ließ am Frontalunterrricht festhalten, wo Gruppenarbeit ideal gewesen wäre, und das Sprachlabor verlor schnell an Attraktivität. (Wir hatten seinen Wert, verführt durch den missionarischen Eifer führender Sprachwissenschaftler) überschätzt. Kurzum: Überall mußten wir (im wahrsten Sinne des Wortes) Federn lassen: Und dennoch stehe ich zum entworfenen Idealbild unseres Anfangs der alten Volksweisheit folgend, daß man das Unmögliche anstreben muß, um das Mögliche zu erreichen.
Und es gab schließlich viel Positives und Erfreuliches! Ich denke vor allem an unsere Hauptaufgabe: an die Förderung der Kinder unseres Einzugsgebietes, die ohne unser Tagesheimschul - Angebot die Hochschulreife nicht erreicht hätten. Wir wiesen immer wieder nach, daß wir an der Tagesheimschule tatsächlich einen viel größeren Anteil an Kindern der Grundschicht förderten als normale Halbtags-gymnasien.
"Ohne Stoppenberg", sagte mir noch vor kurzem ein ehemaliger Schüler wörtlich, "wäre ich nicht zum Studium gekommen und wäre heute nicht Dozent an diesem großen Bildungszentrum!" Andere ehemalige Schüler kamen als Lehrer wieder zurück zum Stoppenberg. Solche Fakten, meine ich, sind für uns Stoppenberg Lehrer des Anfangs die eigentlichen Erfolgsmeldungen.
Nach außen sichtbar kam manches Schöne hinzu. Unsere Werkstätten wurden zu wahren Vorzeigestücken. Die an das bauliche Zentrum der Großen Halte gebundenen Veranstaltungen brachten für Schüler, Lehrer und Eltern wichtige Gemeinschaftserlebnisse: die sorgfältig vorbereiteten Schul - Gottesdienste, die konsequente Schülertheater - Arbeit der Kollegen Sommer und Schleiffer und die Präsentation musikalischer und künstlerischer Schülerarbeiten. Ergänzt wurden die musischen Schülerdarbietungen durch die Gastspiele der Profis. Mit diesem kulturellen Angebot wendeten wir uns nicht nur an Schüler, Lehrer und Eltern, sondern auch an die Bevölkerung des Umfelds! (Die Stadtverwaltung sprach von Stadtteilarbeit). Die Theater von Essen, Gelsenkirchen und Oberhausen kamen gerne zu Gastspielen in unsere Halle. (Das Essener Schauspiel verlegte sogar zwei Premieren in unsere Arena!) Die General Intendanten von Gelsenkirchen und Essen ließen sich persönlich zu Lesungen einladen zweimal erlebten wir eindrucksvoll Brecht liest Brecht. Zur Essener Ballett Chefin Heidrun Schwaarz und zum Generalmusikdirektor Professor Wallberg entwickelte sich vor allem durch Werner Sommers Vermittlung eine herzliche Freundschaft. Die WAZ zog die Summe und nannte unsere Schule das Kulturzentrum im Essener Norden ...
In der pädagogischen Landschaft blieben wir lange ein Unikum schon weil das Wirtschaftswunder zu Ende gegangen war. Wir wurden das Ziel von Forschungsgruppen und Kommunalverwaltungen. Umgekehrt erreichten uns Einladungen zu Gastvorlesungen und Diskussionsrunden, die wir gar nicht alle wahrnehmen konnten. Dabei eilte das positive Image sicherlich oft unserer effektiven Leistungsfähigkeit voraus. Jedes Jahr ging das Gerangel um die Plätze in den Eingangsklassen aufs neue los. Ich vertrat dennoch den Standpunkt, den Staat nicht durch eine Vergrößerung der Schule von seinen grundsätzlichen Pflichten zu entlasten oder gar mit der Begehrtheit der Schule zu protzen, sondern den in Deutschland erprobten Grundsätzen der Freien Schule treu zu bleiben und der Öffentlichkeit lediglich ein übersehbares und gut funktionierendes Modell vorzuführen. Aber hier muß ich abbrechen, um denen das Wort zu überlassen, die (eine Generation nach den Gründern) auf neue Herausforderungen neue Antworten geben müssen. Ich geniere mich aber nicht, zuletzt noch einmal ganz persönlich zu werden: Für mich zählen die Stoppenberger Jahre, das wissen viele Freunde und ehemalige Kollegen, nicht nur beruflich zu den interessantesten und schönsten Jahren meines Lebens. Und wenn ich nachts schon mal träume (was nicht oft vorkommt bei mir), dann träume ich, zehn Jahre nach meiner letzten Fahrt ins Revier, vom Stoppenberg und von den Stoppenbergern.