"Wir waren die Ersten"
Eine (nicht immer) ganz objektive Betrachtung eines Ehemaligen zur Gründungszeit der Schule.
Erinnerungen an die Zeit des Provisoriums 1966-69
Am Morgen des 18. April 1966 wartete ich als kleiner Sextaner, zusammen mit über 100 weiteren Schülern und deren Eltern, ein wenig aufgeregt und neugierig, vor dem Siedlungshaus "Neuhof 28" in Essen Katernberg. Dieses kleine Häuschen sollte mein neues Gymnasium werden.
Neben den Sextanern (nur Jungs) gab es noch die "Großen" (auch Mädels). Ex Realschüler des Aufbauzuges, die bereits zwei Jahre später (1968) ihr Abitur machen sollten.

In den ersten Wochen fand der Unterricht in provisorisch hergerichteten Räumen statt. U.a. musste der spätere Musikraum als Klassenraum genutzt werden. Hier standen keine Tische. Jeder Schüler saß auf einem Stuhl, der an der Rechten Seite mit einer Armlehne versehen war, die sich nach vorne hin zu einem kleinen Schreibpult erweiterte (keine Stühle für Linkshänder!).
In den Pausen spielten wir auf dem Schulgelände neben den Bauarbeitern, welche die erste Holzbaracke – liebevoll Pavillon genannt - errichteten. Dabei waren die Sand- und Erdhaufen beliebte Treffpunkte, umfunktioniert von uns zu Burgen, die erobert oder verteidigt werden mussten. Überschüssige Kräfte konnten wir auch sehr bald durch die Anschaffung eines Sandsacks und eines Punchingballs abbauen.
Interessante Abwechslungen wurden uns durch das Quietschen und Rattern der langen Zechenbahnzüge geboten, die mehrmals in der Stunde unmittelbar hinter dem Schulgelände vorbeidonnerten. Sehen konnten wir aus dem Klassenzimmer nur den Rauch der Dampflokomotiven, denn die Bahn fuhr durch eine tiefer liegende Trasse unmittelbar an unserem Schulgelände vorbei. In den Pausenzeiten standen wir dann häufig am Schulzaun und beobachteten die vorbeifahrenden Züge.
Eiszeit
Drei Wochen nach der Einweihungsfeier, die am 2. Mai 1966 stattfand, kam der damalige Bischof, Dr. Franz Hengsbach, persönlich zu "seinen" Schülern. Als bischöfliche Gabe spendierte er uns allen ein Eis am Stiel.

Ein bis zwei Straßenbahnen früher musste man schon fahren, um rechtzeitig anwesend zu sein. Trotzdem war ein pünktliches Erscheinen nicht immer gewährleistet. Eine geschlossene Bahnschranke an der Zeche Zollverein (am Abzweig Katernberg) konnte alle guten Bemühungen zerstören. Kohlezüge mit unzähligen Waggons, die die Straße quälend langsam überquerten, waren damals keine Seltenheit (Ausreden, die Schranken wären Schuld, auch nicht).
Die Beseitigung des ersten Provisoriums
Nach einigen Wochen (wie viele es wirklich waren, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern) konnten wir endlich unsere ersten "richtigen" Klassenräume im neuen Pavillon beziehen.
"Theo gegen den Rest der Welt" (Eine subjektive Auswahl von Lehrkräften der ersten Stunde)
Der Klassenlehrer unser Sexta C, Ulrich Sprenger (hart aber fair, mit großem Sinn für Gerechtigkeit), wurde von uns nach kurzer Zeit nur noch liebevoll Theo genannt (Jahre später entstand [daraus???] ein Film mit Marius Müller-Westernhagen: Theo gegen den Rest der Welt). "Theo" - bei uns - an der Tafel, wir als der Rest der Welt.
Seine Unterrichtsfächer waren Deutsch und Biologie. Sein Motto war, den Unterricht spannend und unterhaltsam zu gestalten, was ihm immer wieder aufs Neue gelang.
Er brachte uns bereits in der Sexta Heinrich Böll nahe, dessen Kurzgeschichten der frühen Nachkriegszeit mich noch heute faszinieren.
Sein neues Reporter-Tonbandgerät überließ er uns im Deutsch-Unterricht für Reportagen und Leseproben. Im Biologie-Unterricht konnten wir uns an lebenden Anschauungsmaterialien erfreuen und gruseln. Mal war es eine Gottesanbeterin, mal eine riesige Spinne, mal eine lebende Maus, die als Medium herhalten musste.

Besondere Highlights waren seine Klassenbucheinträge.
Eines Morgens brachte ein Mitschüler einen ganzen Packen selbstgebackener Waffeln vom Wochenende mit in die Schule. Aufbewahrungsort war das Fach unter seinem Tisch. Dort stapelten sich die leckeren Kostbarkeiten. Der Duft der Waffeln regte wohl die Geschmacksnerven des Mitschülers derart an, dass er es nicht lassen konnte, mehrmals davon zu naschen.
Es folgte der obligatorische Klassenbucheintrag.
1. Stunde Deutsch:
"H. (Name dem Verfasser bekannt!) isst während des Unterrichtes".
6. Stunde Biologie:
Zweiter Klassenbucheintrag: "H. isst immer noch.
Zwei Einträge an einem Tag schrieen nach empfindlicher Bestrafung. Ulrich Sprenger ließ jedoch Gnade vor Recht ergehen. Stattdessen ließ er sich (nach dem zweiten Klassenbucheintrag) durch ein erbetenes Waffelstück von der Güte des Produktes überzeugen.
Ulrich Sprengers Gerechtigkeitssinn war für mich prägend. Bei Streitigkeiten nahm er sich Unterrichtszeit, um uns an unserer Ehre zu packen. Mit Gelassenheit und Ruhe schaffte er es immer wieder, seinen "Schüler-Haufen" zu bändigen.
Anschauliche Beispiele hatte er stets parat. Bei heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Klassengemeinschaft klagte er uns einmal an, ein Haufen Quecksilber zu sein.
"Giftig, nur zu ertragen, wenn hinter Glas eingesperrt, auch dann nur scheinbar eine Einheit; freigelassen, ein Auseinanderfallen in kleine Kügelchen, ohne Zusammenhalt, nur nicht berühren!"
Das saß! Wir rissen uns wieder zusammen, denn wie Quecksilber wollten wir nicht sein.
Selbst die Bewertung seine Grammatikarbeiten überließ er zum Teil uns (das war unser fester Glaube – damals). Die Arbeiten wurden korrigiert, jedoch unzensiert zurückgegeben. Dann war der Klassensprecher gefordert, eine Punktetabelle an der Tafel zu erstellen. Jeder Schüler war aufgerufen, seine Fehlerpunkte zu nennen. Eine gut sichtbare Strichliste war das Ergebnis.
Nun begannen die Diskussionen (gut geleitet von U. Sprenger) um die Bewertungen. Wir konnten uns anhand der Liste ein Bild davon machen, wo Arbeiten nach oben oder unter herausstachen. Auch im breiten Mittelfeld wurden die Zensuren-Grenzen nach manch heftiger Diskussion gezogen.
War die Arbeit noch "gut" oder bereits "befriedigend". Letztendlich waren wir alle mehr oder weniger zufrieden. Gerecht behandelt fühlten wir uns auf alle Fälle, dank "Theos" pädagogischem Geschick.
Aloys Budde (Mathematik, Pfeifenraucher, humor- und vertrauensvoll, streng) hatte zu Beginn unserer Schulzeit die ehrenvolle Aufgabe, uns die damals hoch gelobte (heute kritischer gesehene), neue Mengenlehre beizubringen. Mengenlehre als Einstiegsdroge für das Verständnis höherer Mathematik. Und er schaffte es wirklich. Mit Humor, hintergründigem Witz aber auch einer Portion Strenge, begleitete er uns auf den schwierigen Pfaden dieses unbekannten Terrains.
Karl Linke (Musik, der Schüler-Versteher) war damals bereits seit einigen Jahren Domkapellmeister und dirigierte u. a. auch die Domsingknaben. Soll heißen: Er hatte immer ein Herz für geknechtete Schüler.
Mit all unseren Sorgen konnten wir uns unserem Musiklehrer anvertrauen. Immer ein tröstendes Wort. Immer eine Idee, wie man ein Problem aus der Welt schaffen konnte.
Sein Unterricht richtete sich damals nicht nur nach den Richtlinien für den Musikunterricht, sondern auch nach dem Geschmack seiner Schüler. Die Musik der Beatles – auch kein Tabu für ihn.
Ein Schülerproblem im Jahr 1968: kein Geld für Schallplatten und erst recht keine Stereoanlage im Elternhaus.
Eine hochwertige Anlage gab es für den Musikunterricht im Musik-Fachraum der Schule. An diese durften wir verständlicherweise nicht heran.
Trotzdem brachte ein Mitschüler die neuste Single der Beatles mit, was sich sehr schnell herumsprach. A-Seite "Hey Jude", B-Seite "Revolution".
Wen fragen? Natürlich Karl Linke!
Er lud uns alle in der Mittagspause in seinen Musikraum ein, stellte uns die Stereoanlage zur Verfügung und harrte die gesamte Pause bei uns aus, da wir nicht genug von beiden Stücken bekommen konnten (Stereo-Effekte waren noch eine Seltenheit). Dabei ertrug er auch die von uns gewünschte Lautstärke (was ich heute bei meinen Schülern nicht unbedingt zulassen würde! - Anmerkung des Verfassers).

Projektunterricht vom Feinsten!
Die Aufführung fand zur Grundsteinlegung des neuen Schulkomplexes statt.
Frau Entlein (Religion): Das Einzige, was mir zu ihr noch einfällt, war die Zeugnisbenotung am Ende der Sexta. Kollektiv alle Schüler der Klasse ein "ausreichend".
Auf Elternnachfrage kam die Antwort (Gedächtnisprotokoll, etwas vereinfacht wiedergegeben!): "Ich kenne die Schüler noch zu wenig. So wollte ich niemanden ungerecht behandeln." (?!)
Ein zart wachsendes, junge Pflänzchen mit Namen "Gerechtigkeitssinn" hatte einen herben Dämpfer erhalten.
Karl Heinz Brokerhoff ("Der Alte" oder "Gott-Vater") Er war für uns der Übervater, der Zeus auf dem Olymp.
Von großer Körperstatue (war er wirklich so groß oder waren wir noch so klein?), regierte er ruhig und souverän sein Schülervolk, ohne jedoch zu vergessen, dass wir Sextaner auch unsere Streicheleinheiten brauchten.
Hans-Joachim Gersch (Lateinlehrer, die rechte Hand vom "Alten", streng, gerecht und souverän) war sehr darauf bedacht, in uns die tote Sprache Latein wieder lebendig werden zu lassen. Vokabeln und Grammatik mussten gekonnt sein, selbst wenn er, Herr Gersch, uns in der Nacht im (Alb)-Träume erschiene.
Schuhsohlen und andere Katastrophen
Das Mittagessen war für uns Schüler (wir sprachen darüber) und bestimmt auch für die meisten Lehrer (sie sprachen nicht darüber mit Ausnahme unseres Domkapellmeisters) eine häufig wiederkehrende Katastrophe.
Ich erinnere mich an Spinat mit Matschkartoffeln und hart gekochten, ungeschälten aber zerdätschten (heißt: zerbrochenen) Eiern und an die häufige schreckliche Wiederkehr der hauchdünnen Rindfleischstücke, von allen Schülern liebevoll Schuhsohlen genannt. Auch der pampige Milchreis war ein regelmäßiger "Gaumengenuss".
Essen mussten alle Schüler. Ausnahmen waren nur mit ärztlichem Attest möglich.
Dieses Geheimnis verriet uns unser Musiklehrer Linke. Er ermutigte uns in manch vertrauensvollem Gespräch zu dieser Maßnahme. "Er würde dieses Essen seinen eigenen Kindern niemals zumuten".
Welcher Balsam für unsere geknechteten Mägen.
Suppen mit Würstchen und Brötchen waren dagegen nicht zu verachten.
Ein Fußball muss nicht zwingend rund sein
In den überaus langen Mittagspausen zog tagtäglich ein langer Tross von Schülern und Aufsicht führenden Lehrern zum Gelände der damaligen Bergbau Berufschule. Wenige Minuten benötigten wir, meist bewaffnet mit Fußbällen und Tischtennisschlägern, für diesen Weg, denn uns erwartete eine großes Sportgelände mit 400m-Aschenbahn und Rasen-Fußballfeld, eine Turnhalle und ein großer Freizeitraum, der mit etlichen Tischtennisplatten ausgestattet war (gibt es heute dort leider nicht mehr).
Fußball war sowieso immer ein großes Thema. Die Fußball-Weltmeisterschaft 1966 in England fand auch in unserer Schule statt (aber sie dauerte länger als das Original).
Vereins- und Nationalmannschaften wurden gebildet, Fußballspiele auf dem "heiligen" Rasen oder bei Regen auf einem angrenzenden Aschenplatz ausgetragen.
Womit wir Fußball spielten, war uns egal. Alleiniges Kriterium für die Anerkennung als "Ball" waren Gewicht und Oberflächenbeschaffenheit (unsere Straßenschuhe waren entsprechend schnell im Eimer).
Lederbälle, Plastikbälle, Tennisbälle, Coladosen, Styroporstücke (besonders interessant bei Wind zu spielen), Stoffbälle (aus Eigenproduktion) und andere "tretbare" Gegenstände, die nicht zu Fußverletzungen führen konnten, dienten uns als Mittel zum Zweck.
Wenn wir einmal aus Wettergründen unserer Primärleidenschaft nicht nachgehen konnten, war unser Ziel der Tischtennis-Saal im oberen Geschoss des Turnhallengebäudes. Auch hier ließ uns das fortwährende Rundlauf-Spiel an unsere körperlichen Grenzen gelangen.
Ausgepowert und durstig verließen wir zum vereinbarten Zeitpunkt wieder das Sportgelände - nicht ganz so schnell, wie wir das Schulgelände zum Beginn der Pause verlassen hatten. Auch war der Rückweg um einiges länger (bestimmt doppelt so lang), als es der Hinweg gewesen war.
Dann blieb in den zwei bis drei Nachmittagsstunden immer noch genügend Zeit, sich für den Heimweg körperlich zu regenerieren.
Für unsere Lehrer war somit der 3. Unterrichtsblock bestimmt kein Zuckerschlecken. Für die ausgelaugten und verschwitzten Schüler, die sich am Nachmittag auch mit den so genannten Hauptfächern herumschlagen mussten, ebenso wenig.
Ein ungeeignetes Mittel, Unterricht zu verhindern
Ein Herbstmorgen vom Feinsten. Nebel, so dicht, dass man keine 20 Meter weit sehen konnte.
Die Klassengemeinschaft unter Vorsitz des Klassensprechers erarbeitete in der Pause einen Plan, den weiteren Unterricht zu verhindern. Wir beschlossen, alle Klassenfenster zu öffnen, damit der Nebel sich innen ausbreiten und der Unterricht somit nicht stattfinden konnte.
Fazit: Versuch gescheitert, stattdessen im anschließenden Unterricht kräftig gefroren.
Auf die Frage des Lehrers, welcher Schüler so schusselig gewesen wäre, bei diesem Sauwetter alle Fenster zu öffnen, gab es keine befriedigende Antwort.
Unsere Fragen, warum der Nebel sich nicht in den Klassenraum locken ließ, wurden erst durch unsere physik-erfahrenen "Großen" geklärt.
Kaum begonnen, schon beendet
Das erste Schuljahr begann kurz nach Ostern, im April 1966 und endete bereits am 30. November (1. Kurzschuljahr). Siebeneinhalb Monate, abzüglich der sieben Wochen Sommer- und Herbstferien, in denen der Stoff eines gesamten Schuljahres untergebracht werden musste.
Das zweite Kurzschuljahr dauerte dann vom 5. Dezember 1966 bis zum 26. Juli 1967, knapp acht Monate, inklusive einer sechswöchigen Ferienzeit.
Die Eroberung Katernbergs durch die Römer anno 1967
Karneval, Anfang Februar des Jahres 1967.
Ein Heer von römischen Schülern und Lehrern machte sich auf, den Stadtteil Katernberg zu erobern. Angeführt von einem, durch einen Traktor (oder LKW?) gezogenen Streitwagen, bahnten wir uns unseren Weg durch die schulnahen Straßen unseres Stadtteils. Auf dem Wagen thronte unsere Skiffle Band, bestehend aus Schülern der Oberstufe. Die musikalische Leistung war enorm. Unsere "Schlachtgesänge" erzeugten in den angrenzenden Häusern große Aufmerksamkeit.
Großer Schock und tiefe Trauer
Nach den Osterferien im Jahre 1968 erwartete uns eine traurige Nachricht. Ein Mitschüler aus einer parallelen Klasse war mit seiner Familie im Urlaub an der Nordsee umgekommen. Sie waren im Wattenmeer von der Flut überrascht worden und konnten sich nicht mehr retten. Tiefe Bestürzung erfasste uns Schüler und unsere Lehrer. Einige Wochen größerer, freiwilliger Besinnung folgten.
Abschied von einem geliebten Provisorium
Mit dem Beginn des Schuljahres 1968/69 war allen klar, das Provisorium "Neuhof 28" wird bald ein Ende haben.
Zwar wussten wir, dass der Neubau in Stoppenberg bessere Lern- und Lebensbedingungen schaffen würde, trotzdem spielte ein bisschen Wehmut mit, unser geliebtes Provisorium verlassen zu müssen.
Dabei ahnten wir jedoch noch nicht, dass uns wiederum Baulärm, Dreck und weitere Provisorien in den kommenden Jahren begleiten würden.
(Norbert Zimmermann)